Psychoedukative Betreuung

Psychoedukative Betreuung schizophrener Patienten und ihrer Familien

Dieses Konzept beruht auf einem komplexen Modell, welches familiäre Bedingungen neben biologischen, psychologischen und sozialen Einflussfaktoren auf den Verlauf schizophrener Psychosen berücksichtigt. Theorien zur Ursache einer schizophrenen Erkrankung z.B. durch die Familie konnten empirisch nicht bestätigt werden, einseiti-ge Ansätze greifen zu kurz und lassen wichtige Möglichkeiten der Hilfe ungenutzt. Die in den Familien schizophrener Patienten gefundenen Auffälligkeiten fanden sich in gleicher Weise auch in Familien ohne ein erkranktes Mitglied. Der Unterschied liegt darin, dass für einen schizophren Erkrankten solche Konflikte zum Auslöser ei-ner erneuten Krankheitsphase werden können. Ziel der Psychoedukativen Familien-betreuung ist, die betroffenen Familien bei der Lösung von Konflikten und Problemen zu unterstützen, um emotionale Spannungen abzubauen und das Risiko eines Rück-falls in die akute psychotische Erkrankung zu vermeiden. Das Vorgehen gliedert sich in einzelne Phasen, die meist nebeneinander ablaufen, der Übersichtlichkeit halber aber als getrennte Einheiten dargestellt werden.

Die Familienbetreuung kann schon während der – im Idealfall ersten – stationären Behandlung des Betroffenen beginnen und ist auf die Fortsetzung nach der Entlas-sung angelegt, um Veränderungen in den Alltag zu übertragen. Voraussetzung ist, dass der Erkrankte einem etwa einstündigen Gespräch folgen kann. Manche Teile des Programms setzen ein gewisses Maß an Krankheitseinsicht voraus. Um eine ausreichende Stabilität des Erfolges zu gewährleisten ist ein Zeitraum  von ein bis zwei Jahren erforderlich. Die Sitzungen sind alle zwei Wochen. Intensität und Dauer sollten sich am Bedarf der Familie orientieren.

Das hier beschriebene Vorgehen hat sich vor allem bewährt, wenn die Erkrankung in ihrer Ernsthaftigkeit akzeptiert wurde und Motivation besteht, aktiv etwas zur Besse-rung beizutragen. Dies ist nicht einfach zu erreichen, es können drei Jahre seit Er-krankungsbeginn bis dahin vergehen. In dieser Zeit ist es in Gesprächen oft wichti-ger, die eigene emotionale Betroffenheit und persönliche Bedeutung zu thematisie-ren sowie sich auf die unvermeidlichen Veränderungen in vielen Bereichen einzustel-len. Wenn schon wesentlich mehr Zeit vergangen ist, kann die Hoffnung auf Besse-rung schon aufgegeben sein. Dann ist eine erneute Ermutigung notwendig.

Vor dem Hintergrund eines humanistischen Menschenbildes geht der Ansatz davon aus, dass jedes Familienmitglied in der gegebenen Situation sein Bestes versucht, familien- und krankheitsbedingte Probleme zu lösen. Wachstumspotentiale in Form von hilfreichen Verhaltensweisen können am besten freigesetzt und für den Problem-löseprozess nutzbar gemacht werden, wenn in der Familie ein gutes Klima besteht und Konflikte sowohl sachlich, als auch wohlwollend besprochen werden können.

1. Diagnostik

Hierzu erfolgt zunächst eine Phase der Diagnostik zur Krankheitsentwicklung, Familiensituation und –problemen, Zielbestimmung, Analyse der familiären Kommunikati-on und der Psychopathologie des Betroffenen. Der Therapeut analysiert das Interak-tionsverhalten aller Beteiligten und informiert sich über ihre Einstellungen, Gefühle, Ziele und Motive: Er erfasst das emotionale Klima und das Problemlöseverhalten der Familie, wobei er z.B. auf mangelnden Blickkontakt, gegenseitiges Unterbrechen, für andere sprechen, vom Thema abschweifen, Vorwürfe machen, Widersprüche zwi-schen Ausdruck und Inhalt des Gesagten etc.), aber auch auf Kompetenzen, auf de-nen er aufbauen kann. Auch das bereits bestehende Wissen über die Erkrankung wird berücksichtigt.

Auf der Basis dieser Informationen formuliert der Therapeut auf den verschiedenen Ebenen des Familiensystems spezifische Ziele, so für das kommunikative Verhalten jedes einzelnen Familienmitgliedes (z.B. weniger kritisches Verhalten des Vaters, weniger emotional eindringliches Verhalten der Mutter etc.), für das Problemlösever-halten der Gesamtfamilie (z.B. Einigung auf spezifische, konkrete Probleme, Vermei-dung von Ausweichversuchen auf andere Themen etc.) und für die Struktur des Fa-miliensystems (z.B. Unterstützung der Autonomiebestrebungen einzelner Familien-mitglieder).

Daneben versucht der Therapeut zu jedem eine tragfähige Beziehung aufzubauen. Er respektiert die bisherigen Bewältigungsversuche der Familie und vermeidet jegli-che Schuldzuweisung. In der Diagnostikphase können halbstrukturierte Interviews sowie Fragebögen eingesetzt werden.

2. Informationsphase

Information

Es schließt sich eine Informationsphase an, in der ein umfangreiches Wissen über charakteristische Symptome, Häufigkeit und Verlauf, Ursachen, medikamentöse Be-handlung mit antipsychotischen Drogen und Nebenwirkungen sowie die Ermittlung von Frühwarnzeichen vermittelt wird. Ziel ist es, eine Wissensgrundlage für die kom-petente Bewältigung der Krankheit und die Vermeidung von Stressbelastungen für den Patienten zu schaffen.

Das vermittelte Krankheitsbild orientiert sich am Vulnerabilitäts-Stress - Modell schizophrener Episoden. Es versucht, alle gesicherten Befunde aus der Schizo-phrenieforschung zu integrieren, Schizophrenie als nosologische Einheit zu sehen und alle gefundenen Einflussfaktoren zu berücksichtigen. Einbezogen werden:

  • Störungen der Aufmerksamkeit und Informationsverarbeitung
  • Dysfunktionen des autonomen Nervensystems
  • Schizotypische Persönlichkeitszüge
  • Kritisches oder emotional überinvolviertes Familienklima (erfasst nach dem Expressed-Emotion-Konzept)
  • Überstimulierende soziale Umwelt
  • Belastende Lebensereignisse


Durch die Ermittlung persönlicher Frühwarnzeichen soll ein rasches Reagieren auf eintretende Verschlechterungen des Zustandes ermöglicht werden. Anhand des Frühwarnzeichen-Inventars, aber auch anhand der Beobachtungen und Erfahrungen des Betroffenen und seiner Angehörigen wird geklärt, ob der oder den akuten Episo-den Veränderungen und Beschwerden vorausgingen, die zunächst noch keinen An-lass zur Sorge gaben. Im Nachhinein kann der Zusammenhang zur Erkrankung aber deutlich werden. Treten solche Veränderungen wieder auf, sollte das Problem in der Familie besprochen werden, um auslösende Stressoren zu identifizieren und abzu-bauen. Gelingt das nicht, sollte Kontakt zum Therapeuten und behandelnden Arzt gesucht werden. Gegebenenfalls muss die Dosis der Medikation erhöht werden. Ist der Umgang mit der Situation verantwortungsbewusst, kann in symptomfreien Zeiten die Medikation minimiert werden.

3. Kommunikationstraining

Durch einen hohen Wissensstand können Ängste, Schuldgefühle und Vorwürfe in der Familie vermindert werden. Die Stressbelastung für den Patienten sinkt. Diese Erfolge lassen sich aber nicht über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten und bieten keinen dauerhaften Schutz vor Rückfällen. Oft muss sich daher eine Phase des Kommunikations- und Problemlösetrainings für die gesamte Familie an-schließen. Ziel ist, aktuelle Konflikte und Probleme in einer sachlichen Atmosphäre lösen zu können. Im Sinne einer „Hilfe zur Selbsthilfe" soll die Fähigkeit vermittelt werden, auch zukünftige Probleme selbständig zu lösen und die Lebensqualität der ganzen Familie zu verbessern. Wird dies über einen ausreichenden Zeitraum geübt, konnte im Rahmen von Forschungsprojekten die Rückfallrate deutlich vermindert werden. Geübt wird:

1. Spezifisches Ausdrücken positiver Gefühle
Hiermit soll das Einüben neuer Kommunikationsformen erleichtert und die Motivation erhöht werden. Die Sensibilität für positive Aspekte des Zu-sammenlebens wird gesteigert, die oft durch Probleme und Schwierigkei-ten in den Hintergrund gedrängt worden sind.

2. Konstruktives Mitteilen von Wünschen
Wünsche nach Änderung des Verhaltens eines Familienmitgliedes werden oft als Forderung oder Anschuldigung ausgesprochen. Dies ruft meist Wi-derstand hervor mit der Folge, dass der Wunsch nicht erfüllt wird. Es ent-stehen Enttäuschung, Ärger und Hoffnungslosigkeit. Der Therapeut ver-sucht, ungünstige Kommunikationsstile wie Vorwürfe, Drohungen und de-struktive Kritik, die oft in fruchtlose Auseinandersetzungen münden, durch spezifisches Äußern von Bitten und Wünschen zu ersetzen.

3. Spezifisches Ausdrücken negativer Gefühle
Die mangelnde Fähigkeit, negative Gefühle angemessen auszudrücken, führt zu spannungsreichen, feindseligen Auseinandersetzungen. Sammeln sich ärgerliche Situationen an, droht eine Eskalation. Gegenseitige Be-schuldigungen und Angriffe bauen die Spannung nicht ab, sondern ver-schärfen sie noch. Eine andere Möglichkeit ist die Vermeidung, negative Gefühle zu beachten. Es entsteht ein Ungleichgewicht in der emotionalen Beziehung und eine Kompensation durch Überfürsorglichkeit oder ande-res latent aggressives Verhalten. Ziel ist, auch negative Gefühle sachlich-freundlich und ohne Vorwurf auszusprechen, die erwünschte Veränderung konkret zu beschreiben und die dadurch entstehenden Vorteile deutlich zu machen (vor allem auch, dass man sich besser fühlt)

4. Aktives Zuhören
Hiermit üben die Zuhörer, empathisch auf den Gesprächspartner einzuge-hen und unklare oder widersprüchliche Botschaften zu klären. Dabei übt der Zuhörer, sich zu konzentrieren und eigene Äußerungen solange zu-rückzuhalten, bis der Andere  ausgesprochen hat.

 

4. Problemlösetraining

Durch konsequente Anwendung der Kommunikationsregeln lassen sich viele problematische Situationen meistern, die sonst zu belastenden Auseinandersetzungen führen würden. Die Bewältigung länger andauernder, tiefgehender Konflikte oder überraschend eintretender, stressreicher Lebensereignisse verlangt der Familie je-doch weitergehende Fertigkeiten ab, wenn es nicht zum Scheitern, in der Folge zu Belastungen für alle Beteiligten und damit letztlich zu einer Zunahme des Rückfallri-sikos kommen soll. Im familiären Zusammenleben - insbesondere wenn es durch psychische oder physische Krankheit belastet wird – sind immer dann Problemge-spräche notwendig, wenn unterschiedliche Wünsche und Meinungen aufeinander treffen. Dies ist einerseits mit negativen Gefühlen wie Ärger, Enttäuschung oder Sorgen verbunden, andererseits müssen trotz unterschiedlicher Bedürfnisse Entschei-dungen getroffen werden, von denen jeder Einzelne betroffen ist. Mit Hilfe des Problemlöseansatzes lernt die Familie, dass für die meisten Konflikte Lösungen gefunden werden können, die jedem Beteiligten in bestmöglicher Weise gerecht werden. Es soll eine Gesprächsstruktur vermittelt werden, die vom Inhalt unabhängig alle Beteiligten dazu befähigt, ein konstruktives, zielgerichtetes Konfliktgespräch zu führen, das sechs Schritte umfasst:

  • Um welches Problem geht es?
  • Lösungsmöglichkeiten sammeln (ggf. aufschreiben)
  • Lösungsmöglichkeiten diskutieren
  • Lösungsmöglichkeit(en) auswählen
  • Überlegen, wie die beste Lösungsmöglichkeit in die Tat umgesetzt werden kann
  • Überprüfen, ob die geplanten Schritte eingehalten wurden

Auch Probleme in der Therapie, z.B. Unregelmäßigkeit bei der Medikamentenein-nahme, mangelnde Kooperation oder Verschlechterung des Befindens des Patienten können so bearbeitet werden. Der Therapeut versucht so früh wie möglich, die Gesprächsleitung an die Familie zu delegieren.

5. Bearbeiten individueller Probleme

- Persistierende Schizophreniesymptome

Etwa jeder fünfte Patient leidet unter produktiven Symptomen, die sich als the-rapieresistent erweisen, am häufigsten akustische Halluzinationen und Wahn-vorstellungen. Auch hier ist es wichtig, eine angemessene Reaktion der Ange-hörigen auf den Patienten zu fördern und Akzeptanz zu erzielen. Mit den Pati-enten können in Einzelkontakten Bewältigungsmöglichkeiten gesucht werden. Durch bewusste Steuerung der Aufmerksamkeit und entspannende oder ab-lenkende Maßnahmen kann die subjektive Beeinträchtigung vermindert wer-den. Dysfunktionale Bewältigungsversuche wie der Versuch, die Symptome zu unterdrücken oder sich mit ihnen auseinanderzusetzen, können abgebaut wer-den.

- Ängste

Wenngleich schizophrene Patienten eher unspezifische, generalisierte Ängste beklagen, lassen sich doch mit Hilfe gründlicher Verhaltensanalysen oft angst-steigernde situative Faktoren und entsprechende Vermeidungstendenzen er-mitteln. Auf dieser Grundlage können Konfrontationsübungen geplant und durchgeführt werden, die sich an den allgemeinen Behandlungsprinzipien für Angststörungen orientieren. Zu beachten ist bei schizophrenen Patienten, dass Intensität und Dauer von Expositionen der individuellen Belastbarkeit an-gepasst werden müssen, so dass sich ein graduiertes Vorgehen in Begleitung empfiehlt.

Als weitere Behandlungsmaßnahme zur Bewältigung von Ängsten bietet sich die „Sicherheitsnetz-" oder „Katastrophisierungstechnik" an. Hierbei werden angstbesetzte Vorstellungen in sensu durchlaufen. Bei jedem angsterregen-den Schritt erfolgen eine Unterbrechung und die Aufforderung, das schlimmst-mögliche Szenario vorzustellen. Anschließend wird eine Bewältigungsmög-lichkeit erarbeitet. Auch das bewusste Akzeptieren und Annehmen der eige-nen Ohnmacht kann zu einer Entlastung führen!

- Depressionen

Bei schizophrenen Patienten treten häufig starke Depressionen auf, wenn sie die akute Krankheitsphase überstanden haben und sich ihrer verbliebenen Beeinträchtigung bewusst werden. Die Betroffenen erkennen, dass sie man-che Zukunftspläne aufgeben oder auf unbestimmte Zeit verschieben müssen und sie leiden unter der Stigmatisierung, die eine psychotische Erkrankung mit sich bringen kann. Depression kann ferner eine biologisch bedingte Teilkom-ponente der schizophrenen Erkrankung oder Folge der Behandlung mit Anti-psychotischen Drogen sein. Diese Symptomatik geht mit einem hohen Suizid-risiko einher und stellt ein ernsthaftes Problem dar. Eine medikamentöse Be-handlung mit Antidepressiva sollte versucht werden, bewirkt aber nur in man-chen Fällen eine Besserung.

Auch über diese Symptomatik sollte eine ausführliche Aufklärung erfolgen und das Suizidrisiko offen mit den Betroffenen und ihren Angehörigen angespro-chen werden. Die Behandlung orientiert sich auch hier an den gängigen Ver-fahren zur Behandlung von Depressionen. Nach einer detaillierten Analyse des depressiven Verhaltens auf motorischer, emotionaler und kognitiver Ebe-ne wird der Aufbau positiven Verhaltens gefördert und eine kognitive Umstruk-turierung angestrebt. In der therapeutischen Beziehung kann hier der Wen-dung von Aggressionen gegen das eigene Selbst in Form von selbstbestra-fendem Verhalten die Akzeptanz aggressiver Impulse wirksam entgegen ge-setzt werden.

Literatur: Hahlweg/Dürr/Müller: Familienbetreuung schizophrener Patienten - Wein-heim 1995